Die Kontrolle der Kontrolleure

- März 13, 2011

Dies ist ein schon älterer Artikel, der im August des letzten Jahres im faz.net veröffentlicht wurde. Norbert Schneider ist ist Direktor der Landesanstalt für Medien NRW (LfM) in Düsseldorf. Ich finde ihn trotz seines älteren Datums hier der nochmaligen Veröffentlichung wert; er ist ein ausgesprochen kluger Exkurs zu der Frage der Kontrolle der Menschen im Netz, die mich in verschiedenen Ausprägungen immer wieder beschäftigt. Verblüffend einfach – und in ihrer Einfachheit absolut richtig – ist seine Schlussfolgerung: „Für diese Regulierung genügen im Grunde zwei Paragraphen. Paragraph 1: <Die Daten eines Menschen sind sein Eigentum. Wenn sie jemand nutzen möchte, dann zu den Bedingungen, die dafür allgemein festgelegt werden. Wer sie zur Kontrolle eines Menschen nutzt, verletzt seine Würde.> Paragraph 2 könnte lauten: <Der gesamte Datenverkehr muss für den Datengeber jederzeit transparent sein>“.

Quelle: faz.net, 11.08.2010

http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~E777521344CDF41789328C28FE66DA6B7~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Sozialkontrolle im Netz

Die Menschenleser

Wer sich im Netz preisgibt, wird zu einem Menschen zweiter Schöpfung: Er gibt den digitalen Göttern Gelegenheit, jede Kontrollmöglichkeit auszunutzen. Es ist an der Zeit, eine vernünftige Regulierung für die Kontrolleure zu finden.

Von Norbert Schneider

Wer kontrolliert die Kontrolleure? Die Datensouveränität muss in der Hand des Datengebers bleiben

Man kann verschiedene Geschichten von der Digitalisierung erzählen. Besonders beliebt ist die Version vom großen Erfolg. Die Belege reichen vom Handy bis HD. Von der Navigation bis zu MRT. Und es ist ja auch keine Frage: Auf viele Kummerfalten der analogen Kommunikation und der alltäglichen Rechnerei wirkt die Digitalisierung wie Botox.

Eine zweite Version ist die Schön-und-gut-Erzählung. Schön und gut, sagt der Erzähler, nun kannst du überall telefonieren. Leider kann dich jetzt auch jeder erreichen. Personalabbau hier erzwingt Personalausbau dort. Zeitgewinn vorne führt zu Zeitverlust hinten. Das Ganze ist ein Nullsummenspiel. Oder eben: Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand. Und was machst du in der Nachbarzelle (Lec)?

Eine dritte Version entfernt sich von der Benutzeroberfläche. Sie beschreibt die Konturen eines neuen, des digitalen Menschen. Er ist nicht mehr das Kind Gottes, das Tier, das lachen kann, das zoon politikon, die Verbindung von Über-Ich, Ich und Es. Es ist der Mensch als Summe seiner von Rechnern gesammelten und lesbaren Daten.

Wichtige analoge Menschenleser sind Ärzte und Psychologen, Lehrer und Pfarrer. Sie finden heraus, woran man krankt, was man fühlt, wovon man träumt, was man weiß, wann man sündigt. Aus ihren Lesefrüchten, die meist unter einem Schweigegebot stehen, definieren sie den analogen Menschen – um ihn dann, mit Blick auf seine Schwächen, zu disziplinieren. Die digitalen Menschenleser sind nur noch große Rechner. Aus der Fülle der individuellen Daten, die überall anfallen, wo digital kommuniziert wird, beim Telefonieren, bei GPS, beim Surfen schaffen sie als Krone einer zweiten Schöpfung einen zweiten, virtuellen Menschen – vergleichbar dem zweiten Körper des Königs (Kantorowicz).

Mach dich gläsern!

Jetzt gilt: An seinen Daten soll man ihn erkennen, an seinen in Daten verwandelten Vorlieben, Werturteilen und Einstellungen, seinem Lieblingslokal, seinen Konsumgewohnheiten, seinem Wahlverhalten, seinen Macken. Die lesbaren Daten reichen, um nahezu alles über einen Menschen zu wissen. Das macht ihn kontrollierbar. Der Weg von analog zu digital ist auch der Weg von einer Disziplinar- in eine Kontrollgesellschaft (Deleuze).

Dass überall Daten aus dem Menschen schießen – diese Datenblüte wird getrieben durch ein Klima, das alles bisher eher Private ins Öffentliche verschiebt. Zwar gibt es nach wie vor Orte der Diskretion, Klöster oder gated cities, Logen oder lounges. Doch Konjunktur hat das Öffentliche. Man isst im Freien und telefoniert dabei ungeniert. Statt Gärtchen – der Biergarten. Die Mode veröffentlicht menschliche Körper. Public viewing breitet sich aus. Exhibitionismus wird chic. In der Talkshow, in der Castingshow, im Container von Big Brother, dessen Kontrollauge wohlgefällig auf den Datenspendern ruht. Getrieben wird dieser Trend zum Öffentlichen auch von einer schon immer zahlen- und datenfixierten empirischen Sozialforschung, die datenhungrig alles und jeden zählt und dann korreliert. Bis heute zum Glück anonym. Wie ein Brandverstärker wirkt, was man das heute schier unabweisbare Transparenzgebot nennen kann, dessen Imperative lauten: Mach dich gläsern! Zeig dich! Oder hast du was zu verbergen? Manche sprechen inzwischen von einer Tyrannei der Transparenz.

Dieses schon analog gut gefüllte Datenfass bringt die „Medienmaschine“ (Coy) Internet vollends zum Überlaufen, durch Daten, die beim Surfen entstehen, bewusst, zufällig, unvermeidbar, zwangsläufig, speziell über soziale Netzwerke, Chatrooms oder Foren. Das Surfen, sagt Deleuze, habe überall die alten Sportarten abgelöst. Dieselben Menschen, die sich schon bisher kaum gewehrt haben, wenn man sie – auf ihre Daten bezogen – bis aufs Hemd ausgezogen hat, geben sich nun im Netz vollends preis: die Spiele, die sie spielen, die Bücher, die sie lesen, die Wege, die sie gehen, die Räusche, die sie hatten. Wo immer die Surfer die Welle reiten, fischen anschließend die großen Netzrechner ab, was an Daten liegen bleibt. Und geben es dann in die Speicher.

Das Verschwinden des Originals

Richtig neu und eigentlich die Signatur des Digitalen ist: Beim Datengeben und Datennehmen bleibt, anders als in den analogen Speichern, das Gelagerte im Speicher, auch dann noch, wenn es abgerufen, wenn es genutzt wird. Der elementare menschliche Wunsch, den Kuchen zu essen und ihn gleichwohl zu behalten, verliert seine paradoxe Pointe. Jetzt geht beides. Früher war es ein Wunder, wenn der Ölkrug der Witwe nicht leer wurde. Jetzt ist es das gerechnete Resultat digitalisierbarer Daten. Das Wunder hat ausgedient. Und der Grund ist so simpel wie bahnbrechend: Die Differenz zwischen Original und Kopie, zwischen echtem und virtuellem Öl hat sich erledigt. Das Einmalige verschwindet hinter der unendlichen Reproduzierbarkeit des Originals – als Original! Eigentum ist nicht mehr ortsgebunden. Zwei und mehr können dasselbe gleichzeitig besitzen.

Der erste, heute schon sichtbare Effekt dieser Verschiebung von privat und öffentlich ist derselbe, der bei der Ankunft neuer Medien immer zu beobachten war. Indem diese vagabundierende Datenmasse sich in neuen Formen und neuen Orten von Öffentlichkeit stabilisiert, zwar nur langsam, aber sicher, fransen die Ränder der analogen, medienerzeugten Öffentlichkeit aus und mit ihr die Funktion einer (nie einfach nur einen) Öffentlichkeit selbst. Das Anschwellen von Daten aller Art zwingt die klassischen Medien, besser früher als später, zu reagieren. Ihre herkömmlichen Funktionen und Ansprüche verfallen, wenn sie einfach fortgeschrieben werden. Das Gegenüber zu neuen Wettbewerbern – auch wenn sie vorerst noch schwach sind – verlangt die Besinnung speziell auf die Leistungen, die die Konkurrenz nicht anbieten kann. Das rät zur Konzentration, nicht zur Aufblähung. Ein interessanter Nebeneffekt entsteht hier für die Medienaufsicht. Die Vielfaltsicherung beziehungsweise die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht verliert im Lichte der Digitalisierung ihren Schrecken. Denn viele Daten sind der Tod des Tycoons.

Neue Anthropologie

Doch die eigentliche Pointe der Datenschwemme ist nicht etwa eine Arbeitsentlastung für den Regulierer. Es ist der neue Mensch, lesbar als Träger seiner Daten. Es ist eine neue Anthropologie, entstanden aus einer Art von Aktionsmüll, einem Rechenfutter, aus dem die Rechner dann im Auftrag Dritter Gold machen.

Doch an diesem Punkte wird die neue Anthropologie prekär. Der Mensch als Datenträger wird, indem er lesbar gemacht wird, auch steuerbar, vorhersehbar, kontrollierbar. Er wird, ohne davon irgendetwas zu wissen, zum Objekt einer auf Dauer gestellten Rasterfahndung, die alle Liebhaber von Siebdrucken ermitteln will, die über dreißig Jahre und vermögend sind. Oder mehr als zwei Tage im Jahr am Arbeitsplatz fehlen. Oder eine Vorliebe für Pornogaphie haben.

Für programmierte Rechner ist das kein Problem. Wohl aber für den Berechneten. Er wird umfassend kontrollierbar. Sein Schritt und sein Tritt sind nicht nur nachvollziehbar, sie werden auch vorhersagbar. Gläsern steht er im Speicher, dem Interesse der Beschaffer und Benutzer schutzlos ausgeliefert. Die waschen und kämmen die Daten und machen sie marktfein. Sie werden zur Grundlage von Geschäftsmodellen, in denen die digitalen Menschen, indem ihre Datenprofile an die analogen Waren- und Dienstleistungsgesellschaften verkauft werden, ihrerseits zum Kauf anstehen. Einer abnehmenden Gefahr von vorherrschender Meinungsmacht auf dem Gebiet der Massenkommunikation korrespondiert bei der Individualkommunikation das Problem einer zunehmenden Kontrollmacht. Wieder einmal steht nicht weniger als die Würde des Menschen auf dem Spiel.

Kaum etwas ist geheimer als das Gebaren der Sozialkontrolleure

Damit er dieses Spiel nicht verliert – Goliath gegen David, doch diesmal ohne Schleuder -, braucht er Schutz durch die Gesellschaft, eine Regulierung, die das asymmetrische Verhältnis zwischen ihm und den digitalen Menschenlesern und ihren Herren ins Lot bringt.

Diese Regulierung hat mit Zensur nichts zu tun. Sie greift nicht auf Inhalte zu, sie macht nur das Unsichtbare sichtbar: wie ein Mensch, der Daten abgibt, anhand dieser Daten kontrollierbar wird. Reguliert werden muss ein Geschäftsmodell, dessen Basis der kontrollierbare Mensch ist. Denn: ohne Daten kein Geschäft. Die Regulierung muss dort ansetzen, wo es möglich wird, dass Dritte sich auf diesen zweiten virtuellen Datenmenschen ihren wirtschaftlichen, womöglich aber auch einmal ihren politischen Vers machen. Es geht um die gesellschaftliche Kontrolle derer, deren Maxime nicht Macht durch Meinung heißt, sondern Profit durch Kontrolle.

Für diese Regulierung genügen im Grunde zwei Paragraphen. Paragraph 1: „Die Daten eines Menschen sind sein Eigentum. Wenn sie jemand nutzen möchte, dann zu den Bedingungen, die dafür allgemein festgelegt werden. Wer sie zur Kontrolle eines Menschen nutzt, verletzt seine Würde.“ Paragraph 2 könnte lauten: „Der gesamte Datenverkehr muss für den Datengeber jederzeit transparent sein.“

Der Grund liegt auf der Hand. Noch unöffentlicher, noch geheimer als die Finanzwirtschaft ist derzeit nur noch das Gebaren der neuen Sozialkontrolleure. Niemand weiß genau, welche Daten sie sammeln und welchen Weg sie nehmen. Niemand kann sagen, wo sie lagern, und nur in seltenen Fällen, wie lange. Kein Wunder, dass ich annehmen muss, dass meine Daten, nachdem sie mich verlassen haben, jederzeit gegen mich oder zum Nutzen anderer verwendet werden können. Gäbe es hier Transparenz, könnte es zu solchen Spekulationen nicht kommen.

Zum Menschenbild der ersten Schöpfung gehört der freie Wille – mit allem, was daraus werden kann. Es ist dafür zu sorgen, dass in einer zweiten Schöpfung dieser freie Willen nicht faktisch ausgelöscht wird. Eine Pointe der ersten Schöpfung kann man darin sehen, dass der erste Mensch nicht das Objekt der göttlichen Kontrolle war. Geht es so weiter wie bisher, dann wird eine Pointe der zweiten Schöpfung sein, dass die digitalen Götter sich dadurch an der Macht halten, dass sie eine Kontroll-Lücke schließen – indem sie eine Videokamera auch noch auf den Baum der Erkenntnis richten.
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